Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einer
Entscheidung in Sachen Dombo
Beheer B.V./Niederlande (EGMR,
Urt. v. 27.10.1993 - 37/1992/382/460) eine trotz Antrag unterlassene Parteivernehmung
der klagenden Partei als Verletzung der in Art. 6 Abs.1 EMRK verankerten
Grundsätze des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit
angesehen. Diese Entscheidung hat weitreichende Wirkungen auch für
den Zivilprozeß nach der ZPO, ist aber bis heute ein ungeliebtes
Kind der Gerichte und bleibt weitgehend unbeachtet.
Der vom EGMR nach Vorlage durch die Kommission entschiedenen Beschwerde
lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die niederländische GmbH Dombo Beheer hatte im Instanzenzug
eine Klage gegen ihre Hausbank, bei der es um das Ausmaß einer Kontokorrentkreditvereinbarung
ging, aus Beweislastgründen verloren. Die ursprünglichen Kreditverhandlungen
waren unter vier Augen zwischen dem Geschäftsführer der Firma
und dem Zweigstellenleiter der beklagten Bank geführt worden.
Im Verfahren beantragte die Klägerin die Einvernahme ihres
alleinigen Geschäftsführers.
Dieser Antrag wurde von dem niederländischen Gericht abgelehnt
unter Berufung auf die geübte Rechtspraxis, wonach die Einvernahme
einer Partei nicht als Beweismittel in Betracht käme und der Geschäftsführer
als Vertretungsorgan Parteistellung habe.
Trotz Rüge der Klägerin wurde jedoch der Zweigstellenleiter
der beklagten Bank als Zeuge gehört, da diesem keine Parteistellung
zukäme.
Nach durchgeführter Beweisaufnahme wies das niederländische
Gericht die Schadensersatzklage der Firma Dombo Beheer im wesentlichen
mit der Begründung ab, daß es der Klägerin nicht gelungen
sei, die behaupteten mündlichen Erweiterungen des Kreditrahmens zu
beweisen.
Eine klassische Beweislastentscheidung, die auch nach der deutschen ZPO
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht anders ausgefallen
wäre, da auch hier der Geschäftsführer als Partei nicht
gehört werden muß.
In der Literatur und ganz vereinzelt auch in der Rechtsprechung wird
nun seit dieser Entscheidung diskutiert, ob und gegebenenfalls bei welchen
Fällen diese Entscheidung im Verfahren zu berücksichtigen ist
und zu einer ausweitenden Auslegung der ZPO-Vorschriften über Parteianhörung
und Beweiswürdigung zwingt.
Dabei hat der EGMR in seiner Entscheidung eindeutige Maßstäbe
im Hinblick darauf gesetzt, wann die Zeugenanhörung einer Partei als
"fair" zu bezeichnen ist. Diese Maßstäbe sind trotz der nach
§ 448 ZPO möglichen Parteivernehmung zu berücksichtigen.
Dies wird bis jetzt von vereinzelten Stimmen gänzlich abgelehnt,
mit dem Hinweis, daß das spezielle niederländische Recht Gegenstand
der Entscheidung gewesen sei; teilweise wird empfohlen die Anwendung der
§§ 447 und 448 ZPO erweiternd auszulegen , überwiegend aber
scheint mir Unsicherheit zu herrschen.
Nach und nach setzt sich allerdings die Ansicht auch in den wenigen
hierzu bekannt gewordenen obergerichtlichen Entscheidungen durch, daß
der Grundsatz des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit zumindest
eine Beschäftigung mit den vom EGMR gesetzten Maßstäben
erfordert.
(so OLG Zweibrücken,
18.3.1997- 5 U 4/96 = OLG Report SB 1998 , Seite 155 ff, welches bei Fällen
von Vieraugengesprächen eine persönliche Anhörung der Partei
unter dem Grundsatz der Waffengleichheit im Rahmen der Beweiswürdigung
selbst ohne Beweislast für notwendig erachtet und zuletzt BGH, Urt.
v. 16.7.1998 - I ZR 32/96 (Köln) = NJW 1999 Seite 363ff, wonach im
Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 448 ZPO der Umstand berücksichtigt
werden kann, daß es um die Aufklärung eines sog. Vieraugengespräches
geht, daß die vernehmende Partei mit einem als Zeugen vernommenem
Mitarbeiter der Gegenseite geführt hat.)
Streitig ist allerdings, inwieweit und mit welchen Mitteln die vorliegende
Entscheidung des EGMR seine gebührende Anerkennung im nationalen Recht
findet.
Es besteht allerdings Einigkeit in Literatur und Rechtsprechung, daß
die Menschenrechte stärker und konkreter in innerstaatliches, vorliegend
deutsches Recht eingebunden werden sollten.
Die Voraussetzung dafür wurde schon 1952 geschaffen.
Die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
ist durch das Zustimmungsgesetz vom 7.August 1952 (BGBl II 685) in Verbindung
mit der Bekanntmachung über das Inkrafttreten vom 15.Dezember 1953
(BGBl II 1954, 14) auch innerstaatliches Recht mit dem Range eines Bundesgesetzes
geworden. (BverfGE 10,271 (274); BGHSt 21, 81 (84); OLG Karlsruhe in NJW
1972, 1907).
Im Übrigen aber ist die Auslegung und Anwendbarkeit der Entscheidung
im Hinblick auf die Parteirechte in der ZPO - und dort insbesondere die
§§ 447, 448 ZPO - offen.
Grundlegend sind hierzu die Aufsätze von Schlosser in NJW 1995,
1404ff und Schöpflin in NJW 1996, 2134ff,
die sich für eine Neuinterpretation der ZPO-Vorschriften aussprechen.
So begegnet Schlosser den grundlegenden Bedenken eine Partei als Zeuge
zuzulassen, welche auch von der überstimmten Mindertheit des EGMR
geäußert wurden, daß ihr Beweiswert typischerweise gering
oder verführerisch ist damit, daß es bei juristischen Personen
ohnehin eines Realitätsgehaltes entbehrt, die Aussagen von Organwaltern
tendenziell als weniger zuverlässig zu halten als die leitender Angestellter.
Zudem dürfe man einer Partei für ein Gespräch unter vier
Augen nicht die Beweislast aufbürden, um ihr anschließend das
einzige Beweismittel vorzuenthalten, über das sie verfügt. Daher
geht Schlosser davon aus, daß, wenn wie im Fall Beheer eine Partei
nur sich selbst als Beweismittel anzubieten hat, ihre Aussage als Beweismittel
gehört werden muß.
In diesem Punkt unterscheidet sich auch die Ansicht von Schlosser von
der Entscheidung des BGH vom 16.7.98 = NJW 1999, Seite 363ff, wo dies,
also die Anhörung einer Partei, die nur sich selbst als Beweismittel
zur Verfügung hat, lediglich im Rahmen der Ermessensentscheidung nach
§448 ZPO berücksichtigt werden kann.
Meiner Ansicht nach hat der BGH hier eine Chance vertan, für Rechtssicherheit
zu sorgen indem er die Parteivernehmung an klare Gegebenheiten knüpft,
bzw. das Ermessen der Gerichte bzgl. des Vieraugengepräches bindet.
Einigkeit besteht bei Schlosser und dem BGH dahingehend, daß dem
Gebot der proßezuallen Waffengleichheit auch durch eine persönliche
Anhörung der Partei nach §141 ZPO genügt werden kann, sowie
bei den Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des §448 ZPO. So
muß nach beiden Ansichten muß das Merkmal der "gewissen Wahrscheinlichtkeit"
erfüllt sein.
Allerdings kann eine derartige Limitierung der Parteivernehmung nach
Dombo Beheer nicht mehr haltbar sein. Selbst wenn der Richter bereits von
einer anderen Sachverhaltsvariante überzeugt ist, muß er die
Partei auch ohne Vorliegen des Merkmals der "gewissen Wahrscheinlichkeit"
hören. Gefahren, die hierdurch entstehen können, kann mit Hilfe
der freien richterlichen Beweiswürdigung begenet werden. Diese von
Marianne Roth in ZEuP 1996 S.497f vertretene Ansicht ist die meiner Ansicht
nach konsequenteste Antwort auf die Domb Beheer Entscheidung, wird sich
aber gerade im Hinblick auf die zu vorsichtige Entscheidung des BGH vom
16.7.98 wohl kaum durchsetzen.
Es gibt aber auch gänzlich negative Stimmen im Schrifttum und der
bisher leider vereinzelt gebliebenen Rechtsprechung.
So vertritt Dr. Johannes
Wittschier in seinem Aufsatz in DRiZ 97, 247ff die Ansicht, daß die
Entscheidung für das deutsche Recht nicht einschlägig sei, da
die ZPO im Gegensatz zu dem damaligen Verfahrensrecht der Niederlande die
Parteianhörung und auch die Parteivernehmung kenne.
Diese Auslegung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes
ist zwar formaljuristisch durchaus nachvollziehbar, übersieht aber
die Wirklichkeit in unseren Gerichtsverfahren.
In meiner 12-jährigen Praxis habe ich in vielen Verfahren Parteivernehmungen
beantragt und wäre oft froh gewesen, wenn es tatsächlich wenigstens
zu einer Anhörung meiner Partei gekommen wäre.
Dies hat bis zum Jahre 1997 ein einziges Mal zu einer förmlichen
Parteivernehmung gem. § 448 ZPO geführt, dies allerdings durch
einen jungen Richter, der die Chance erkannt hatte, hierdurch den Prozeß
vergleichsweise zu beenden, was auch gelungen ist.
Sämtliche anderen Versuche sind fehlgeschlagen, auch wenn die "gewisse
Wahrscheinlichkeit" vorlag und die Voraussetzungen der förmlichen
Parteivernehmung vom Gesetz gedeckt gewesen sind.
Dies liegt im wesentlichen in der restriktiven obergerichtlichen Rechtsprechung
zu dieser Vorschrift.
Auch das OLG München (NJW-RR 1996, 958-960) hat noch nach der Dombo
Beheer-Entscheidung und trotz Antrag auf Parteivernehmung, diesen Antrag
abgelehnt mit der Begründung, daß der EGMR in seiner Entscheidung
darauf hinweist, daß die Kompetenz des Zeugen dem nationalen Recht
vorbehalten bleiben müsse.
Diese Ansicht übersieht aber ganz wesentliches:
Die Menschenrechte und auch Art. 6 EMRK sind im deutschen Recht zu berücksichtigen.
Der Maßstab der Auslegung des deutschen Rechtes wird durch die Entscheidung
des EGMR ganz wesentlich bestimmt.
In der Entscheidung vom 27.10.1993 (NJW 1995, 1413ff) sagt der Europäische
Gerichtshof hierzu wörtlich:
" Der Gerichtshof stimmt mit der Kommission überein, daß
im Hinblick auf eine Prozeßführung, die sich auf unterschiedliche
private Interessen bezieht, der Begriff "Waffengleichheit" beinhaltet,
daß jeder Partei eine vernünftige Möglichkeit eingeräumt
werden muß, ihren Fall - einschließlich ihrer Zeugenaussage
- vor Gericht unter Bedingungen zu präsentieren, die für diese
Partei keinen substantiellen Nachteil im Verhältnis zu seinem Prozeßgegner
bedeuten ".
Weiter heißt es:
Nur zwei Personen waren anwesend bei dem Treffen, in dessen
Rahmen diese Übereinkunft angeblich erreicht worden ist, nämlich
Herr van Reijendam als Repräsentant der antragstellenden Gesellschaft
und Herr van W. als Vertreter der Bank. Gleichwohl ist nur einer dieser
beiden Schlüsselpersonen erlaubt worden, vor Gericht auszusagen, und
zwar dem Repräsentanten der Bank. Der antragstellenden Gesellschaft
ist nicht die Möglichkeit gegeben worden, die Person, die sie repräsentierte,
in den Zeugenstand zu rufen, weil das Rechtsmittelgericht diese als mit
der antragstellenden Gesellschaft identisch gesehen hat.
Während der hier interessierenden Unterredungen verhandelten Herr
von Reijendeam und Herr van W. auf gleicher Grundlage, beide waren zu den
Verhandlungen von ihrer jeweiligen Partei befugt.
Es ist daher schwierig einzusehen, warum ihnen nicht auch beiden die
Gelegenheit gegeben worden ist, als Zeuge auszusagen.
Die antragstellende Gesellschaft ist daher im Verhältnis zu der
Bank in einen substantiellen Nachteil gesetzt worden, so daß demzufolge
eine Verletzung von Art. 6 I EMRK vorliegt.
Die abweichenden Voten der Richter Martens und Pettiti (a.a.O ) lassen
die Entscheidung unter dem Blickwinkel der ZPO ebenfalls nicht in einem
anderen Lichte erscheinen.
Die Voten gehen davon aus, daß die Parteivernehmung der beweisbelasteten
Partei das letzte Mittel sein muß, nach Ausschöpfung aller nationalen
verfahrensrechtlichen Möglichkeiten. Hiergegen ist im Prinzip nichts
einzuwenden.
Selbst die Wertung der abweichenden Voten muß dazu führen,
daß in Fällen, wie dem vorliegenden, - die im Prozeßalltag
im Übrigen nicht unüblich und im Arbeitsgerichtsverfahren fast
Standard sind - dem beweisbelasteten Kläger die Möglichkeit einzuräumen,
seinen Fall ohne Nachteile dem Gericht zu präsentieren.
Erst wenn dies möglich wird, ist den Prinzipien der Menschenrechte
und den daraus sich ableitenden Grundsätzen des fairen Verfahrens
und der Waffengleichheit genüge getan.
Als Anwälte sollten wir in allen diesen Fallkonstellationen - aber
auch beschränkt auf diese - bei den Gerichten jeweils den Antrag auf
Parteivernehmung gemäß Art. 6 I EMRK stellen und auf die oben
zitierte Entscheidung
des EGMR hinweisen.
Nur wenn von allen Seiten die Waffengleichheit eingefordert wird, kann
sich die Auslegung der Verfahrensordnung dem übergeordneten europäischen
Recht der Menschenrechte anpassen.
Ob hierzu eine Parteianhörung oder eine förmliche Parteivernehmung
notwendig ist, kann nur im Einzelfall entschieden werden.
Sicherlich wird manchesmal für die Beteiligten das Verfahren aufwendiger
und komplizierter, sicherlich wird auch so manche Partei vor Gericht von
einer Ehrfurcht erfaßt, die zu einer teils verstellten, teils unsicheren
Aussage führt, die dem Ausgang des Prozeßes schädlich sein
kann.
Dennoch wird es zu einem besseren Rechsfrieden führen, wenn die
beweisbelastete Partei, wie in dem Fall Dombo ähnlich Fällen,
- in welcher Form auch immer - ihren Fall dem Richter präsentieren
kann.
Ich kann daher nur anregen, von der Antragsmöglichkeit gem. Art.
6 I EMRK Gebrauch zu machen.
Die Gerichte sind durchaus offen für diese Möglichkeiten,
lediglich derzeit verunsichert durch weitgehenst fehlende obergerichtliche
Rechtsprechung und wenige Zitate in den Kommentaren.
(Putzo zu § 448 ZPO, Zöller-Greger zu § 448 ZPO)
Als Anwalt ist man allerdings aufgerufen, auch in beweisrechtlich aussichtslosen
Fällen dem Recht zum Erfolg zu verhelfen und alle Register zu ziehen.
Seit meiner Beschäftigung mit dieser Entscheidung des EGMR und
den entsprechenden Anträgen haben sich die Gerichte bei entsprechenden
Hinweisen immer öfter zumindest mit der Möglichkeit der Parteianhörung
auseinandergesetzt und diese auch durchgeführt, die Parteivernehmung
im wesentlichen aber abgelehnt.
Sollte Sie eigene Erfahrungen mit der Entscheidung des EGMR haben oder
in Zukunft machen, lassen Sie mir bitte Informationen darüber zukommen
Soweit Sie neuere Entscheidungen benennen können, sollen diese
in Zukunft auch hier veröffentlicht werden.
Bisher veröffentlichte Entscheidungen nach meiner Kenntnis :
LG Mönchengladbach v.11.07.1997, 2 S 49/97 = NJW-RR 1998, 501-502
LAG Sachsen-Anhalt v. 28.08.1997, 6 Sa 219/97 = JURIS
OLG Düsseldorf v. 22.03.1996, 22 U 183/95 = OLG Report Düsseldorf
96, 274 f
OLG München vom 13.3.1996, 15 U 4049/95 = NJW-RR 1996, 958-960
OLG Zweibrücken vom 18.03.1997, -5 U 4/96 = OLG Report KO, SB
98, 156 ff - sehr lesenswert
BGH, Urt. v. 16.7.1998 - I ZR 32/96 (Köln) = NJW 1999 Seite 363ff
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